In dem Drama „Nathan der Weise“ von G.E. Lessing geht es primär um die Religionsfrage. Lessing lebte in der Zeit der Aufklärung, daher folgt der aufklärerische Gedanke hinter Lessings Stück. Das Stück spielt zur Zeit der Kreuzzüge in Jerusalem, die Stadt in der die drei großen Religionen mit wichtigen Heilig- und Pilgerstätten vertreten sind, sozusagen das Bindeglied, aber auch die Konfliktstelle der Weltreligionen. Das Theaterstück beginnt damit, dass Nathan der Weise, ein wohlhabender jüdischer Kaufmann aus Babylon zurück nach Jerusalem kommt. Er erfährt von Daja, seiner christlichen Dienerin, dass sein Haus brannte und seine Tochter Recha von einem unbekannten Tempelherrn gerettet wurde. Nathan will sich beim Tempelherrn bedanken. Recha hält den Tempelherrn für einen Engel und schwärmt für ihn, deswegen erwartet sie von ihrem Vater ihn ausfindig zu machen. In der Textselle II.5, die es zu interpretieren gilt, ist es endlich soweit, dass Natahn den Tempelherrn endlich persönlich antrifft. Diesen Dialog möchte ich in meinen folgen Zeilen erläutern.
Schon zu Beginn des II. Aufzug 5. Auftritt werden dem Leser die Personenkonstellationen deutlich aufgeführt. Zu Anfang ist Nathan alleine und führt einen Monolog, indem er den Tempelherrn lobt, und dem Publikum sagt, dass er ihn mag „Ein Jüngling wie ein Mann. Ich mag ihn wohl Den guten trotz’gen Blick! den prallen Gang!“ (Vers 1195). Auch die Einstellung des Tempelherrn wird von Anfang an klar vermittelt, indem er trotzig, wie von Nathan erwähnt, arrogant, ohne sämtlichen Respekt und voller Verachtung Nathan gegenübertritt. Seine Verachtung gegenüber Nathan wird mit seiner Verachtung gegen das jüdische Volk begründet. Diese wird schon angedeutet, als der Tempelherr das zweite Mal zu Wort kommt in Vers 1199 und Nathan nicht mit seinem Namen, sondern mit seiner Religionszugehörigkeit, „Was, Jude? Was?“, anspricht. Als sprachliches Mittel verwendet Lessing das ganze Stück hindurch Gedankenstriche, die dem Stück Dynamik für die schauspielerische Interpretation verleihen sollen und Sprechpausen darstellen. In Vers 1998 verwendet Lessing „(...)“. Dies hat die Wirkung, dass das vorangehende „Erlaubt...“ Nathans zögerlich, unentschlossen, unsicher und bedacht beim Leser ankommen. Außerdem ist es ähnlich anzusehen wie eine Regieanweisung, die Lessing für sein Stück bereits so festlegte. Die Abneigung des Tempelherrn gegen die Juden kommt noch an mehreren anderen Stellen zum Vorschein. So zum Beispiel, als der Tempelherr sich rechtfertigen will, dass er Recha gerettet hat. Er sagt, dass es die Pflicht eines jeden Tempelherrn wäre zu helfen, „-wenn’s auch nur Das Leben einer Jüdin wäre.“ (Vers 1219). Das Wort „nur“ betont seine tiefe Verachtung und zeigt, dass ihm das Leben einer Jüdin bzw. eines Juden überhaupt nichts wert ist. Wenn er wüsste, dass die Jüdin in Wirklichkeit keine Jüdin ist und er sich später in sie verliebt, bis sich herausstellt, dass sie seine Schwester ist, würde er, denke ich, anders über sie reden. Außerdem wird metaphorisch dargestellt, dass viele Menschen Vorurteile und Abneigungen gegen Juden haben, bereits im Mittelalter wie auch heute noch, weil die Juden schon immer viel Geld hatten bzw. haben, da sie durch ihren Glauben fast keinen anderen Beruf ausüben dürfen außer Berufe wie Kaufmann oder Bankier. Der Tempelherr deutet diesen „Volksneid“ in Vers 1232 an „Der reichre Jude war Mir nie der bessre Jude.“. Als Nathan ihm bereits seinen Namen gesagt hat, spricht er ihn trotzdem weiterhin mit „Jude“ an, was uns zeigt, dass es ihm gleichgültig was Nathan sagt und was er von ihm will. (Vers 1260) „Aber Jude- Ihr heißt Nathan?“. Er erweist sich als sehr ignorant und hält sich als Christ scheinbar für etwas Besseres als das, was die Juden für ihn sind. In Vers 1290 bezeichnet er die Juden als das „auserwählte Volk“. Und missbilligt somit indirekt ihr Verhalten. Indirekt, weil er in seiner Aussage nicht wörtlich erwähnt, dass er die Juden meint, sondern man das nur aus den vorangehenden Versen assoziieren kann. Er lässt Nathan und den Leser erschließen, dass er mit dem „auserwählten [n] Volk“ die Juden, und folglich Nathan meint. In seinem Text über das „auserwählte Volk“ deutet der Tempelherr an, dass die Juden Schuld seien, dass jede Religion meine „Nur sein Gott sei der rechte Gott“ (1295), weil sie „seines Stolzes; Den es auf Chris und Muselmann vererbte“, wie gesagt, auf die beiden anderen Religionen übertragen habe. Lessing verwendet auch an dieser Stelle sehr viele rhetorische Fragen. Diese sollen den Leser und Nathan auffordern mitzudenken, erfordern jedoch keine Antworten, weil in diesem Fall der Tempelherr die Antwort anschließt. Er verurteilt, dass das Judentum ihren Gott der ganzen Welt aufdringen wolle und er „dieser(r) bessr[e]“ Gott wäre. Er sagt, es sei offensichtlich, was er meine und verwendet dafür ein auch heute noch gebräuchliches Sprachbild: „Wem hier, wem itzt Die Schuppen nicht vom Auge fallen...“ (Vers 1302) und fügt dann noch an: „ Doch sei blind, wer will!“. Er bezeichnet also Nathan so, wie ich den Tempelherrn bezeichnen würde. Er unterstellt ihm, dass er die Augen vor der Realität verschließe und nicht einsehe, dass das Judentum nicht gut sei. Er wirkt scheinbar empört über Nathan. Jedoch reagiert er dann wiederum gegensätzlich. Er wartet die Reaktion Nathans ab und als dieser nichts erwidert, will er wohl den Anschein erwecken, dass es ihm gleichgültig ist, ob er Nathan nun überzeugen konnte oder nicht. Dies stimmt meiner Meinung zufolge nicht mit seinen vorherigen Aussagen und ebenfalls nicht damit, dass er sich so in seine Argumente reinsteigerte, überein. Er will nach sich seiner Argumentation von Nathan abwenden und sagt in Vers (1303/1304) „ Vergesst, was ich gesagt; Und lass mich!“ Dies verdeutlicht, dass er immer noch nichts mit Juden, folglich nichts mit Nathan zu tun haben will.
Aber Nathan wäre nicht Nathan der Weise, wenn er sich kampflos und widerstandslos geschlagen geben würde. Nathan wirkt auf den Leser stets höflich und dankbar dem Tempelherrn gegenüber, obwohl er sich schon so einiges an Unterstellungen gefallen lassen muss. Dankbar deswegen, weil dieser junge Tempelherr seine adoptiv Tochter Recha aus dem Feuer gerettet hat. Jeder wäre dem Tempelherr in Nathans Situation dankbar, doch Nathan hat noch den speziellen Grund dankbar zu sein, weil er bereits seine Frau und seine sieben Söhne durch die Christen in Gath verlor und jetzt nur noch Recha hat. Trotz der Vorgeschichte, dass ausgerechnet die Christen seine Familie grausam ermordeten, hat er keinerlei Vorurteile dem christlichen Tempelherrn gegenüber. Auch das ist ein Indikator für seine Weisheit. Er verurteilt zwar die Christen, die seine Familie auslöschten. Er ist sich aber bewusst, dass nicht alle Christen gleich sind. Er versucht den ganzen Dialog über den Tempelherrn von seiner Meinung zu überzeugen und sein Ziel ist es gemeinsam mit dem Tempelherr als Freunde aus der Konversation heraus zu gehen.
Zuerst sagt Nathan, dass der Tempelherr seine Recha gerettet hat und er deswegen tief in seiner Schuld stehe, weil Zivilcourage, damals wohl genauso wie heute nicht selbstverständlich war. Es ist und bleibt eine Heldentat jemandem zu helfen, der sich in einer Notlage befindet. Der Tempelherr gesteht sich zum ersten Mal in Vers 1270 ein, dass Nathan Recht hat, indem er sagt: „ Ich muss gestehn, Ihr wisst, wie Tempelherren denken sollten.“. Hier wird der Konjunktiv eingesetzt, was an dieser Stelle bedeuten könnte, dass er selber nicht so denkt. Nathan kontert, durch die Hinterfragung, ob „Nur Tempelherren?“ (1271) und ob sie es bloß „sollten“. Das „sollten“ ist hier besonders betont. An dieser Stelle soll sich der Leser selbst fragen, ob man denn nicht so handeln MUSS, wie es der Tempelherr bereits getan hat. In der heutigen Gesellschaft ist unterlassene Hilfeleistung eine Straftat, doch würde jeder sein eigenes Leben für das Leben anderer aufs Spiel setzen? Hier steckt eine ethnische Grundsatzfrage dahinter, die sich jeder Zuschauer und Leser selbst beantworten muss. Nathan fügt dann noch einen, mir sehr zentral erschienenen Satz an, in Vers 1273: „ Ich weiß, wie guten Menschen denken; weiß, Dass alle Länder gute Menschen tragen.“ Vor Nathan ist folglich jeder Mensch gleich, egal aus welchem Land er stammt, welche Religion er hat, an welchen Gott er glaubt, welche Hautfarbe er hat, etc.. Genau wie wir es heut zu Tage im Grundgesetz vorfinden. Zu der Zeit der Aufklärung war das eines der Ziele, die Lessing, Voltaire und die andere Aufklärer durchsetzen wollen. Gleichheit vor dem Gesetz und Religionsfreiheit werden hier aufgeführt und trugen zur Aufklärung ihren elementaren Teil bei.
Der Tempelherr ist scheinbar schockiert und fordert förmlich eine Unterscheidung zu treffen zwischen den Menschen. Nathan erwähnt beiläufig die äußerliche Unterscheidung, also die Unterscheidung „an Farb‘, an Kleidung, an Gestalt“. Hier ist eine Elision, also das Auslassen eines Buchstaben, der dann durch ein Apostroph ersetzt wird, zu finden. Da es sich bei diesem Drama eigentlich um ein dramatisches Gedicht handelt, setzte Lessing die Elision ein, um das Versmaß beizubehalten. Dies hat, ähnlich wie die Gedankenstriche auch wieder die Ursache in der Dynamik des Stückes.
Um dem Tempelherr seine These zu veranschaulichen und zu verinnerlichen fügt Nathan eine Metapher, eine Art Vergleich in diesem Fall an, die wie folgt lautet: „Der große Mann braucht überall viel Boden;(...)“, „der große Mann“ in Vers 1278 steht für einen großen Baum, was im 18. Jahrhundert eine bekannte Verwendung im Volksmund war. Er fügt hinzu, dass wenn zu viele Bäume zu eng aneinander gepflanzt werden, sich die Äste zerschlügen. Wenn zu viele große Männer an einem Fleck sind, herrscht Gewalt und ein Ungleichgewicht in der Gesellschaft. Wenn es überall jedoch mittlere Bäume bzw. Menschen gäbe, würde es sozial ausgeglichen sein und es gäbe nicht so viele Konflikte nach dem besten Stand zur Sonne für die Photosynthese, bzw. den besten Arbeitsplatz und die beste Verbindung zum Herrscher oder ähnliches. Seine Einschränkung ist, dass man nicht egoistisch sein darf, sondern tolerant sein muss, dass sein System funktioniert! Dies belegen: „Nur muss ein Gipfelchen sich nicht vermessen, Dass es allein der Erde nicht entschossen.“ Das heißt so viel wie, dass die Menschen sich gegenseitig akzeptieren müssen, weil ihnen die Erde nicht alleine gehört und jeder Bewohner eine gewissen Verantwortung ihr gegenüber und den anderen Menschen, die sie bewohnen hat.
Als der Tempelherr erneut argumentiert und sich dann von Nathan abwenden will, lässt dieser das, wie zuvor bereits erwähnt, entsprechend seinem Charakter nicht zu. Jetzt beschließt Nathan gegensätzlich zu der Forderung des Tempelherrn, dass er jetzt erst recht nicht von ihm ablässt und der Tempelherr in jedem Falle sein Freund sein müsse. Er argumentiert ähnlich wie später auch in der Ringparabel, das man bzw. die beiden sich ihr Volk nicht auserlesen hätten, d.h. das man getauft man, bevor man entscheidungsmündig ist. Er fragt ihn im Redestil der typisch für Nathan ist, mit den rhetorischen Fragen, was Volk bedeute. Anschließend an diese einführende Frage folgt, eine wie ich finde elementare rhetorische Frage, sowohl für das Stück, als auch für die Textstelle, die lautet: „Sind Christ und Jude eher Christ und Jude, Als Mensch?“ Dann bedauert er es, dass es dem Tempelherr wichtiger sei, Christ zu sein als Mensch. Nach dieser Aussage Nathans kommt der Tempelherr endlich zu der Einsicht, dass Nathan trotz seines Glaubens kein schlechter Mensch ist. Er zweifelt nun nicht mehr daran, dass die beiden Freunde werden müsste „-Eure Hand! -Ich schäme mich Euch einen Augenblick verkannt zu haben.“ (Vers 1315) und im späteren Satz „- Nathan, ja; Wir müssen, müssen Freunde werden.“ Lessing verwendet eine Wiederholung, um die Eindringlichkeit der Aussage und die Bedeutung für das Stück und den Leser zu steigern.
Nathan entgegnet nur, dass sie es schon seien. Am Ausgang des Dialoges sieht man, wie die geschickte Strategie Nathans den Tempelherr zu überzeugen konnte, wie fast alle anderen Personen in dem Stück auch (z.B. den Sultan Saladin in III.7.). Er schafft es den zu Anfang sehr pessimistischen Tempelherr davon zu überzeugen, dass er auch nur ein Mensch ist und dass auch er mehr Mensch als Gläubiger ist. Zu Anfang schaute Nathan noch finster drein und wusste nicht ausreichend über den Tempelherr Bescheid, um sich vorher eine Redestrategie und schlagende Argumente zu überlegen, jedoch schaffte er es trotzdem aus dem Bauch heraus, mit purer Überzeugung, Engagement und dem Wille dazu ihn zu überzeugen.
Man merkt, dass der II. Aufzug zum Höhepunkt hinführen soll, da die Religionsfrage bereits eingeführt wird und man bereits hier zum Nachdenken Religionsbezüglich angestoßen wird. Außerdem steht das Mensch-Sein sehr im Vordergrund und zählt auch beim Überzeugen als schlagenden Argument, wiederum ähnlich wie in III.7.
Ich finde, diese Textstelle sehr wichtig für den Allgemeinverstand des Stückes. Sie trägt viel zur Charakterisierung der Hauptperson Nathan, aber auch zur Charakterisierung des Tempelherrn bei. Der Leser kann sich nach dem II.5. ein besseres Bild vom jungen, unerfahrenen und zu Anfang ein wenig naiven Tempelherrn machen. Wir erfahren außerdem eine Menge über Nathan, als Mensch und seine Charaktereigenschaft, die Leute nicht oberflächlich nach dem zu beurteilen was sie sagen, sondern wie sie es sagen und was sie wirklich damit meinen könnten. Ich denke auch, dass Nathan der Weise den Titel „Weise“ sehr wohl verdient hat, da er auch in diesem Aufzug eine große Menschenkenntnis und eine tolle Diskussionsstrategie an den Tag legt und es somit schafft den skeptischen Tempelherrn zu seinem Freund zu machen. Ich denke schon zu diesem Zeitpunkt ahnt Nathan, dass Recha und der Tempelherr füreinander –in irgendeiner Weise- bestimmt sind. Er muss eine Vermutung gehabt haben, um überhaupt Nachforschungen zur Herkunft seiner Recha und des Tempelherrn anzustellen. Am Ende hat Nathan dann herausgefunden, dass Recha eigentlich Blanda von Filnek heißt und der Tempelherr, der angibt Curd von Stauffen zu sein in Wirklichkeit Leu von Filnek ist. Somit sind die beiden Geschwister und Nathans Angst seine Tochter Recha gleich dem erstbesten in die Hände zu legen war begründet. Am Ende nimmt Nathan Recha und den Tempelherrn bei sich auf, die übrigens auch noch die Nichte und der Neffe des Sultan Saladin und seiner Schwester Sittah sind. Für den Gesamtzusammenhang des Stückes ist es wichtig, dass Nathan und der Tempelherr in dem Aufzug Freundschaft schließen, da sich Recha und der Tempelherr sonst nie verliebt hätten und Recha nie ihren leiblichen Bruder gefunden hätte. Am Ende dieses Auftritts haben sich der Christ und der Jude vertragen und sind so zu sagen über ihren eigenen Schatten gesprungen, um eine Freundschaft aufzubauen. Die Kluft zwischen Juden- und Christentum scheint überwunden zu sein. Dies steht im Bezug zum Ende des Stückes, durch das man erfährt, dass eigentlich alle drei Religionen, die alle versuchten zu unterscheiden, verwand sind und sie eine Familie sind, trotz der Tatsache, dass sie jeweils an einen anderen Gott glauben. Die Gemeinschaft funktioniert solange sich alle akzeptieren und tolerieren, jedoch ist Lessings Ziel auch in der heutigen Gesellschaft noch nicht vollständig angekommen.